nacht-depesche⚡️

Arno Scholz und seine nacht-depesche
Auf Linie in den Untergang

Arno Scholz und seine nacht-depesche

Einst war die nacht-depesche ein publizistisches Schwergewicht, das die Berliner Nachkriegszeit prägte und für Einheit und Freiheit kämpfte. Doch als ihr Verleger den Kurswechsel diktierte, wandten sich die Leser ab. Ein Lehrstück über die Folgen blinder Parteiloyalität.

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Arno Scholz und seine Nacht Depesche

Wie alles begann

Wer in Berlin an Presse-Tycoons denkt, dem kommen Namen wie Alfred Hugenberg, Rudolf Mosse, Willi Münzenberg, Axel Cäsar Springer oder Leopold Ullstein in den Sinn. Der Name eines einstigen Schwergewichts – Arno Scholz – ist dem kollektiven Gedächtnis inzwischen entrückt.

Dabei war Arno Scholz der bedeutendste Verleger der Berliner Nachkriegszeit. Sein Flaggschiff Telegraf war die auflagenstärkste Zeitung Berlins. Die von ihm gegründete nacht-depesche wurde die große Boulevardzeitung jener Jahre. Der Journalist Scholz wurde 1933 verhaftet und von den Nationalsozialisten mit einem Berufsverbot belegt. Dazu bescheinigten sie dem Redakteur des hannoverschen »Volkswille« „Besserungsunfähigkeit“. In den dunklen Jahren nationalsozialistischer Herrschaft leitete Arno Scholz ein kleines Werbebüro und eine Klischee-Anstalt.

Propagandaplakat zur Zwangsvereinigung
Propagandaplakat zur Zwangsvereinigung

Im Juni 1945 gehörte Arno Scholz zu den Mitgründern der Sozialdemokratischen Partei im Kreis-Wilmersdorf. Neben seiner politischen Arbeit für die SPD baute er seine Druckerei wieder auf.

Im Frühjahr 1946 begann die Propagandakampagne für Vereinigung von SPD und KPD. Jede Plakatwand und fast alle Zeitungen in Berlin warben für die Vereinigung der beiden Linksparteien. Die veröffentlichte Meinung trommelte ohne Unterlass für die von Stalin und Ulbricht erdachte Einheitspartei.

Arno Scholz gehörte zu den parteiinternen Gegnern der bevorstehenden Zwangsvereinigung. Sozialdemokratischen Fusionsgegnern verblieb im Frühjahr 1946 einzig der bürgerliche Tagesspiegel, um gegen die von Moskau befohlene Zwangsfusion Stellung zu beziehen.

Arno Scholz beantragte auch deshalb eine eigene Zeitungslizenz. Am 22. März 1946 erhielt Scholz aus den Händen von General Alec Bishop die Zulassung Nr. 19 der britischen Militärregierung zur Herausgabe einer Tageszeitung.

Neben der Lizenz stellten die Briten dem parteiischen Verleger Arno Scholz auch ein Verlagsgebäude zur Verfügung, tief im Westen, am Bismarckplatz 1, übergaben sie ihm den beschlagnahmten Sitz der Reichsleitung des Reichsarbeitsdienstes. Das von dem Architekten Kurt Heinrich geschaffene Haus wurde das neue „Telegraf-Haus“.

Sitz der Reichsleitung des Reichsarbeitsdienstes
Sitz der Reichsleitung des Reichsarbeitsdienstes

Nein zur Einheitspartei

Gleich mit der ersten Ausgabe des frisch lizenzierten Telegraf begann der Kampf gegen die Zwangsvereinigung von SPD und KPD.

Die Redaktion wurde von Beginn an auf die Abwehr der „Aggression des machthungrigen und lebenzerstörenden Kommunismus und Sowjetismus“ eingeschworen.

Publizistisch gegen totalitäre Ideologien zu opponieren, war in der Nachkriegszeit nicht nur geboten, sondern auch ökonomisch erfolgreich. Der Telegraf entwickelte sich schnell zur meistverkauften Zeitung in West- und Ostberlin. Unter dem Schutz der britischen Lizenzgeber war der Verkauf auch in Ostberlin möglich. Die große Popularität des Telegraf in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beruhte auf dem dort weit gespannten Netz aus Informanten und Kontaktpersonen.

Der Telegraf war –  wie kein anderes in den Westsektoren angesiedeltes Blatt – in der Lage, über Vorgänge in der Zone zu berichten.

Die vom Quellen-Netz des Telegraf in der Ostzone gesammelten Informationen flossen aber auch weiter an den britischen Geheimdienst. Durch Nutzung der „Telegraf Informanten“ war der britische Secret Intelligence Service außergewöhnlich gut über Vorgänge in der Ostzone informiert.

Die Machthaber im Osten waren oft außer sich vor Wut über die kritischen Berichte des Telegraf. Als ihre Desinformationskampagnen nicht mehr wirkten, wurden sowjetischer MGB und ostdeutscher Staatssicherheitsdienst aktiv. Mit brutaler Gewalt sollten missliebige Autoren zum Schweigen gebracht werden.

Vor dem Mauerbau wurden Telegraf-Reporter und -Redakteure sogar aus den Westsektoren entführt. Mitarbeiter des Verlags wurden auf offener Straße in dunkle Limousinen gezerrt und über die offenen Sektorengrenzen verschleppt.

Jagd um die Auflage

Um nach Ende des Lizenzzwangs auf den sich verschärfenden Wettbewerb zu reagieren, entwickelte Arno Scholz eine eigene Abendzeitung.

Das werktäglich erscheinende Boulevardblatt erschien erstmalig am 2. Mai 1949 als „Telegraf am Abend“. Nach Umbenennung in „depesche“ am 8. April 1950 und in „Spät-Depesche“ am 28. September 1950 fand das neue Blatt seinen endgültigen Titel am 23. Oktober 1950. 

Zweite Ausgabe der nacht-depesche

Die nacht-depesche sollte auch der von der SED herausgegeben Boulevardzeitung „BZ am Abend“ Konkurrenz machen.

Während sich der Telegraf an ein breites Publikum richtete, adressierte die nacht-depesche Facharbeiter und Angestellte auf dem Weg nach Hause.

Der Verleger Arno Scholz zog alle Register, um den Erfolg seiner nacht-depesche zu sichern. In Konflikten um den für eine Abendzeitung zu frühen Auslieferungstermin – teilweise lag die nacht-depesche schon um 14:00 Uhr an den Kiosken. Seine Versuche, die Grossisten mit Druck exklusiv an den Telegraf-Verlag zu binden, wurde von den Briten – auch gegenüber den anderen Westalliierten – gedeckt.

Als der Sender Freies Berlin (SFB) in den 60er Jahren begann, in sein regionales Fernsehprogramm lokale Werbung aufzunehmen, fand Arno Scholz kein Mittel, die Einnahmeausfälle zu kompensieren. Seine Idee, dem SFB eine Informationssperre (24 Stunden) für Lokalnachrichten aufzuzwingen, wurde im Rundfunkrat verworfen.

Der kurz danach folgende Mauerbau war ein weiterer Schlag für die nacht-depesche. Die Zuträger und Kontaktpersonen hatten keinen Zugang mehr zu den Redaktionsräumen am Bismarckplatz in Wilmersdorf. Gleichzeitig entfielen die Absatzmöglichkeiten in der Ostzone. Die nacht-depesche war eingemauert.

Politische Neuausrichtung

Als die sozialliberale Koalition Ende der 60er Jahre begann, die neue Ostpolitik umzusetzen, ändert der Parteisoldat Scholz die redaktionelle Ausrichtung die nacht-depesche. Das ehemals antikommunistisch und freiheitlich orientiert Blatt propagierte ab da die Annäherung an die DDR und die Sowjetunion.

Zeitungskiosk in Westberlin
Zeitungskiosk in Westberlin

Die Leser der „nacht-depesche“ gingen diesen radikalen Kurswechsel mehrheitlich nicht mit. Als Westberliner erfuhren sie regelmäßig die brutale Unmenschlichkeit des DDR-Grenzregimes.

Die Posten an der Mauer schossen auf flüchtende Ostberliner weiter “wie auf Hasen”. Für das Aussprechen dieser Wahrheit wurde der ARD-Korrespondent Lothar Loewe aus der DDR ausgewiesen.

Lothar Loewe – ARD-Korrespondent in Ost-Berlin 1976

zitat 2

“Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen.“

War die nacht-depesche seit ihrer Erstausgabe, ein starker Verfechter deutscher Einheit, wurden mit dem neuen Reaktionsregime die Ziele Einheit und Freiheit zugunsten einer nebulösen Entspannungspolitik preisgegeben.

Die Bundes-SPD hatte durch ihre Anbiederung an die SED nicht nur die Interessen der Ostdeutschen negiert … auch ihr Desinteresse an den weiter eingemauerten Westberlinern – den Lesern der nacht-depesche – demonstriert.

Der „Wandel durch Annäherung“ war von Beginn an ein zutiefst umstrittenes Projekt. Es spaltete die westdeutsche Öffentlichkeit. Willy Brandts Ostpolitik stieß dabei auf heftigen Widerstand in bürgerlichen Kreisen, aber auch bei den Arbeitern.

Viele Bundesbürger fragten sich, wie man so nachgiebig und entgegenkommend mit Regimevertretern verhandeln kann, die, außer durch Moskaus Panzer, durch nichts legitimiert waren.

Letzte Ausgabe der nacht-depesche

Weder die DDR-Obrigkeit, noch die Parteiführung in Polen besaß ein Mandat ihrer Bürger. Stattdessen verhandelten Brandt und Bahr mit Parteifunktionären und Nomenklaturkadern, die ausschließlich ihre eigenen Machtinteressen vertraten.

Doch nicht nur das sorgte für Kopfschütteln. Auch die offensichtliche Naivität der SPD-Genossen. Diese hofften, über politische und wirtschaftliche Zugeständnisse eine Liberalisierung zu erreichen – doch es änderte sich wenig. Die DDR-Staatssicherheit passte lediglich ihre “Maßnahmen” an, aus offener politischer Verfolgung, wurde die kaum sichtbare Zersetzung.

Die Menschen in der DDR und Polen begrüßten den Dialog mit dem Westen. Auch Willy Brandts Besuch in Eisenach 1970 löste Begeisterung aus – aber nicht, weil die Menschen vor dem Tagungshotel “Erfurter Hofden Sozialismus legitimieren wollten – sie sehnten sich nach einem Bekenntnis zur Wiedervereinigung und der Überwindung der Teilung.

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Das wurde jedoch nie Teil der Ostpolitik. Stattdessen wurde auf eine gefährliche Illusion gesetzt: Man glaubte, die sozialistischen Diktaturen könnten durch Dialog und wirtschaftliche Zusammenarbeit reformiert werden.

Erst Ronald Reagans Politik der Stärke führte Jahrzehnte später zur Wende. Die Sowjetunion war am Ende ihrer Kräfte, ökonomisch und militärisch. Michail Gorbatschow handelte nicht allein aus Überzeugung, sondern aus Not.

Es waren keine Zugeständnisse, die die Wende in der DDR ermöglichten, sondern der kompromisslose Kampf der USA gegen die Sowjetunion.

Politische Neuausrichtung

Die Quittung, für das “Schönschreiben” der von der SPD initiieren neuen Ostpolitik, kam am Kiosk. Innerhalb weniger Monate verlor die nacht-depesche massiv an verkaufter Auflage. Der Versuch der SPD-geführten Bundesregierung, nacht-depesche und Telegraf aus bundesdeutschen Steuermitteln zu retten, scheiterte.

Die Loyalität der Reporter und Redakteure zur neuen Parteilinie wurde nicht belohnt. Aus dem DPA-Ticker erfuhren sie von der Einstellung ihrer bedeutungslos gewordenen Blätter.

Am 30. Juni 1972 erschien die letzte gedruckte Ausgabe der nacht-depesche. Im selben Jahr unterzeichnete Egon Bahr – KGB Deckname: David – in Ostberlin den Grundlagenvertrag.

Der Gründer der nacht-depesche erlebte die Einstellung seiner Zeitung nicht mehr, er starb im Alter von 67 Jahren ein Jahr zuvor.

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Markus Olze
1 Jahr zuvor

Die Haltung der SPD, sich für die Entspannungspolitik einzusetzen und damit auch für eine Annäherung an die SED und die KPdSU, war in der damaligen politischen Lage vernünftig und notwendig. Die Masse der Menschen versteht oft nicht, woher der Wind weht. Das war damals nicht anders als heute. Es ist Aufgabe der Progressiven voranzugehen, auch wenn ewig Gestrige dabei nicht immer mitkommen.

Knut
2 Monate zuvor

… ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie politische Positionierung die Loyalität der Leserschaft beeinflussen kann. Eine wichtige Lektion über die Risiken von Haltungsjournalismus.

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