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Der Walzer Nr. 2 – Drei Viertel vor dem Abgrund

Der Walzer Nr. 2 – Drei Viertel vor dem Abgrund

Was verbirgt sich hinter einem der populärsten Konzertstücke André Rieus? Der Artikel beleuchtet die historische Entstehung des Walzers Nr. 2 von Dmitri Schostakowitsch im Jahr 1938, analysiert seine musikalische Struktur und fragt, warum das Publikum seine tiefere Botschaft bis heute nicht hört.

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Portrait Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitchs im Publikum der Bachfeier
Dmitri Schostakowitsch im Publikum der Bachfeier, Leipzig 1950. Foto: Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 DE.

Im Mai 2025 ist André Rieu wieder in Ostdeutschland auf großer Konzerttournee. Er begeistert jedes Jahr tausende Menschen mit seiner Musik, die Millionen lieben. Doch kaum einer seiner Zuhörer kennt die tiefere Botschaft hinter einem seiner populärsten Stücke – dem berühmten Walzer Nr. 2 von Dmitri Schostakowitsch.

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Europa 1938 – Tanz auf dünnem Eis

Der Walzer Nr. 2 entstand im Jahr 1938, mitten in einer Zeit tiefster Angst und Anspannung. Europa befand sich am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, und in der Sowjetunion herrschte Josef Stalin mit eiserner Hand. Die sogenannten „Säuberungen“ kosteten Millionen Menschen das Leben. Künstler, Intellektuelle und ganze Volksgruppen wurden verfolgt, deportiert und ermordet.

Zugleich breitete sich ein zunehmend aggressiver Antisemitismus in der Sowjetunion aus, der jüdische Künstler und Intellektuelle besonders bedrohte. Es war eine Epoche der Angst, in der fröhliche Melodien oft nur Fassade für tiefe innere Verzweiflung waren.

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Menschen mit Gasmasken in Leningrad, 1937. Foto: Annemarie Schwarzenbach.

Genau in dieser düsteren Atmosphäre komponierte Dmitri Schostakowitsch seinen Walzer Nr. 2 – vordergründig beschwingt, elegant und populär, aber hintergründig voll melancholischer Ironie.

Obwohl Schostakowitsch selbst nicht jüdischer Herkunft war, verwendete er gezielt jüdische musikalische Elemente als subtiles Mittel des Widerstands gegen die Unterdrückung und als kritischen Kommentar zur politischen Situation. Genau diese Zweideutigkeit, diese bittere Süße, findet sich in seinem berühmten Walzer wieder.

Künstler als Seismografen der Geschichte

Künstler haben oft die Gabe, gesellschaftliche Entwicklungen früher zu spüren als Politiker, Soziologen, Politologen oder Psychologen. Franz Kafka schilderte bereits zwei Jahrzehnte vor Hitlers Machtergreifung in seinen Romanen „Der Prozess“ und „Das Schloss“ totalitäre Mechanismen, die später bittere Realität wurden. Gustav Mahler komponierte schon Anfang des 20. Jahrhunderts Musik, die prophetisch den Zerfall Europas und die Schrecken kommender Kriege vorwegnahm.

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Dmitri Schostakowitsch auf russischer Briefmarke.

Auch Schostakowitsch reiht sich ein in diese Tradition großer Künstler, die im scheinbar Schönen und Ästhetischen die Abgründe ihrer Zeit sichtbar machten. Sein Walzer Nr. 2 war keine bloße Unterhaltungsmusik. Er war vielmehr ein Spiegel der gesellschaftlichen und emotionalen Realität – ein fröhlicher Tanz, dessen Melodie die drohende Katastrophe bereits erahnen ließ.

Eine versteckte Botschaft, von vielen unerkannt

Der Cellist Mstislaw Rostropowitsch sah im sinfonischen Schaffen Schostakowitschs eine „Geheimgeschichte Russlands“, und der Musikkritiker Gottfried Blumenstein bezeichnete sein Werk als „apokalyptischen Soundtrack zum 20. Jahrhundert“.

Schostakowitschs Musik thematisiert Angst, Verdrängung und die menschliche Neigung, unangenehmen Wahrheiten auszuweichen. Fast neun Jahrzehnte nach seiner Entstehung tanzen wir weiter – blind für die Zeichen, die Künstler uns hinterlassen haben. Ihre Warnungen verblassen, im hedonistischen Rausch der Gegenwart.

Musik, die mehr erzählt, als wir hören wollen

André Rieus Tournee durch Ostdeutschland könnte Anlass sein, genauer hinzuhören. Kunstwerke wie der Walzer Nr. 2 zeigen uns, dass hinter schönen Melodien oft tiefgründige Wahrheiten verborgen liegen. Vielleicht erkennen wir dann, dass Künstler nicht nur unterhalten – wenn wir bereit sind, ihre Botschaften zu hören.

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Bernd Ölsnitz
1 Tag zuvor

Dieser Artikel will unbedingt eine Botschaft in Schostakowitschs Walzer erzwingen. Aber warum darf André Rieu nicht einfach unterhalten? Rieu bringt klassische Musik dorthin zurück, wo sie hingehört – zu den Menschen. Nicht jeder Walzer ist ein politisches Statement. Manchmal ist ein Tanz eben doch nur ein Tanz, und das Publikum hat jedes Recht, die Melodie einfach zu genießen, ohne ständig nach tieferen Bedeutungen graben zu müssen.

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