Nacht-Depesche

Arno Scholz und seine Nacht-Depesche
Auf Linie in den Untergang

Arno Scholz und seine Nacht-Depesche

Wie Berlins größte Boulevardzeitung sich selbst versenkte.

von <a href="https://nacht-depesche.de/Autoren/Ignaz_Nemtsov">Ignaz Nemtsov</a>

aktualisiert am 19. Januar 2021 | 18:37 Uhr

Wer in Berlin an Presse-Tycoone denkt, dem kommen Namen wie Alfred Hugenberg, Rudolf Mosse, Willi Münzenberg, Axel Cäsar Springer oder Leopold Ullstein in den Sinn. Der Name eines einstigen Schwergewichts – Arno Scholz – ist dem kollektiven Gedächtnis inzwischen entrückt.

Dabei war Arno Scholz der bedeutendste Verleger der Berliner Nachkriegszeit. Sein Flaggschiff Telegraf war die auflagenstärkste Zeitung Berlins. Die von ihm gegründete Nacht-Depesche die große Boulevardzeitung jener Jahre.

Der Journalist Scholz wurde 1933 verhaftet und von den Nationalsozialisten mit einem Berufsverbot belegt. Dazu bescheinigten sie dem Redakteur des hannoverschen »Volkswille« „Besserungsunfähigkeit“. In den dunklen Jahren nationalsozialistischer Herrschaft leitete Arno Scholz ein kleines Werbebüro und eine Klischee-Anstalt.

Propagandaplakat zur Zwangsvereinigung

Propagandaplakat zur Zwangsvereinigung

Im Juni 1945 gehörte Arno Scholz zu den Mitgründern der Sozialdemokratischen Partei im Kreis-Wilmersdorf. Neben seiner politischen Arbeit für die SPD baute er seine Druckerei wieder auf.

Im Frühjahr 1946 begann die Propagandakampagne für Vereinigung von SPD und KPD. Jede Plakatwand und fast alle Zeitungen in Berlin warben für die Vereinigung der beiden Linksparteien. Die veröffentlichte Meinung trommelte ohne Unterlass für die von Stalin und Ulbricht erdachte Einheitspartei.

Arno Scholz gehörte zu den parteiinternen Gegnern der bevorstehenden Zwangsvereinigung. Sozialdemokratischen Fusionsgegnern verblieb im Frühjahr 1946 einzig der bürgerliche Tagesspiegel, um gegen die von Moskau befohlene Zwangsfusion Stellung zu beziehen.

Arno Scholz beantragte auch deshalb eine eigene Zeitungslizenz. Am 22. März 1946 erhielt Scholz aus den Händen von General Alec Bishop die Zulassung Nr. 19 der britischen Militärregierung zur Herausgabe einer Tageszeitung.

Neben der Lizenz stellten die Briten dem parteiischen Verleger Arno Scholz auch ein Verlagsgebäude zur Verfügung, tief im Westen, am Bismarckplatz 1, übergaben sie ihm den beschlagnahmten Sitz der Reichsleitung des Reichsarbeitsdienstes. Das von dem Architekten Kurt Heinrich geschaffene Haus wird das neue „Telegraf-Haus“.

Sitz der Reichsleitung des Reichsarbeitsdienstes

Sitz der Reichsleitung des Reichsarbeitsdienstes

Gleich mit der ersten Ausgabe des mit frischer Lizenz ausgestatteten „Telegraf“ begann der Kampf gegen die Zwangsvereinigung von SPD und KPD.

Die Redaktion wurde von Beginn an auf die Abwehr der „Aggression des machthungrigen und lebenszerstörenden Kommunismus und Sowjetismus“ eingeschworen.

Publizistisch gegen totalitäre Ideologien zu opponieren, war in der Nachkriegszeit nicht nur geboten, sondern auch ökonomisch erfolgreich. Der „Telegraf“ entwickelte sich schnell zur meistverkauften Zeitung in West- und Ostberlin.

Unter dem Schutz der britischen Lizenzgeber war der Verkauf auch in Ostberlin möglich. Die große Popularität des „Telegraf“ in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) beruhte auf dem dort weit gespannten Netz aus Informanten und Kontaktpersonen.

Der „Telegraf“war –  wie kein anderes in den Westsektoren angesiedeltes Blatt – in der Lage, über Vorgänge in der Zone zu berichten.

Die vom Quellen-Netz des „Telegraf“ in der Ostzone gesammelten Informationen flossen aber auch weiter an den britischen Geheimdienst. Durch Nutzung der „Telegraf-„Informanten war der britische Secret Intelligence Service außergewöhnlich gut über Vorgänge in der Ostzone informiert.

Die Machthaber im Osten waren oft außer sich vor Wut über die kritischen Berichte des „Telegraf“. Als ihre Desinformationskampagnen nicht mehr wirkten, wurden sowjetischer MGB und ostdeutscher Staatssicherheitsdienst aktiv. Mit brutaler Gewalt sollten missliebige Autoren zum Schweigen gebracht werden.

Vor dem Mauerbau wurden „Telegraf“-Reporter und -Redakteure sogar aus den Westsektoren entführt. Mitarbeiter des Verlags wurden auf offener Straße in dunkle Limousinen gezerrt und über die offenen Sektorengrenzen verschleppt.

Um nach Ende des Lizenzzwangs auf den sich verschärfenden Wettbewerb zu reagieren, entwickelte Arno Scholz eine eigene Abendzeitung.

Das werktäglich erscheinende Boulevardblatt erschien erstmalig am 2. Mai 1949 als „Telegraf am Abend“. Nach Umbenennung in „depesche“ am 8. April 1950 und in „Spät-Depesche“ am 28. September 1950 fand das neue Blatt seinen endgültigen Titel am 23. Oktober 1950.

Zweite Ausgabe der Nacht-Depesche

Die „Nacht-Depesche“ sollte auch der von der SED herausgegeben Boulevardzeitung „BZ am Abend“Konkurrenz machen.

Während sich der Telegraf an ein breites Publikum richtete, adressierte die Nacht-Depesche Facharbeiter und Angestellte auf dem Weg nach Hause.

Der Verleger Arno Scholz zog alle Register, um den Erfolg seiner Nacht-Depesche zu sichern. In Konflikten um den für eine Abendzeitung zu frühen Auslieferungstermin – teilweise lag die „Nacht-Depesche“ schon um 14:00 Uhr an den Kiosken. Seine Versuche, die Grossisten mit Druck exklusiv an den „Telegraf“-Verlag zu binden, wurde von den Briten – auch gegenüber den anderen Westalliierten – gedeckt.

Als der Sender Freies Berlin (SFB) in den 60er Jahren begann, in sein regionales Fernsehprogramm lokale Werbung aufzunehmen, fand Arno Scholz kein Mittel, die Einnahmeausfälle zu kompensieren. Seine Idee, dem SFB eine Informationssperre (24 Stunden) für Lokalnachrichten aufzuzwingen, wurde im Rundfunkrat verworfen.

Der kurz danach folgende Mauerbau war ein weiterer Schlag für die „Nacht-Depesche“. Die Zuträger und Kontaktpersonen hatten keinen Zugang mehr zu den Redaktionsräumen am Bismarckplatz in Wilmersdorf. Gleichzeitig entfielen die Absatzmöglichkeiten in der Ostzone. Die „Nacht-Depesche“ war eingemauert.

Als die sozialliberale Koalition Ende der 60er Jahre begann, die neue Ostpolitik umzusetzen, ändert der Parteisoldat Scholz die redaktionelle Ausrichtung der „Nacht-Depesche“. Das ehemals antikommunistisch und freiheitlich orientiert Blatt propagierte ab da die Annäherung an die DDR und die Sowjetunion.

Zeitungskiosk in Westberlin
Zeitungskiosk in Westberlin

Die Leser der „Nacht-Depesche“ gingen diesen radikalen Kurswechsel nicht mit. Als Westberliner erfuhren sie regelmäßig die brutale Unmenschlichkeit des DDR-Grenzregimes.

Die Posten an der Mauer schossen auf flüchtende Ostberliner weiter wie auf Hasen (Lothar Loewe).

War die Nacht-Depesche von Anfang an ein starker Verfechter deutscher Einheit, wurden mit dem neuen Reaktionsregime die Ziele Einheit und Freiheit zugunsten einer nebulösen Entspannungspolitik preisgegeben.

Die Bundes-SPD hatte durch ihre Anbiederung an die SED nicht nur die Interessen der Ostdeutschen negiert … auch ihr Desinteresse an denen der weiter eingemauerten Westberliner demonstriert.

Die Quittung kam am Kiosk. Innerhalb weniger Monate verlor die „Nacht-Depesche“ massiv an verkaufter Auflage. Der Versuch der SPD-geführten Bundesregierung, „Nacht-Depesche“ und „Telegraf“ aus bundesdeutschen Steuermitteln zu retten, scheiterte.

Die Loyalität der Reporter und Redakteure zur neuen Parteilinie wurde nicht belohnt. Aus dem DPA-Ticker erfuhren sie von der Einstellung ihrer bedeutungslos gewordenen Blätter.

Letzte Ausgabe der Nacht-Depesche

Am 30. Juni 1972 erschien die letzte gedruckte Ausgabe der „Nacht-Depesche“. Im selben Jahr unterzeichnete Egon Bahr (KGB Deckname: David) in Ostberlin den Grundlagenvertrag.

Der Gründer der „Nacht-Depesche“ erlebte die Einstellung seiner Zeitung nicht mehr, er starb im Alter von 67 Jahren ein Jahr zuvor.

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Markus Olze
11 Monate zuvor

Die Haltung der SPD, sich für die Entspannungspolitik einzusetzen und damit auch für eine Annäherung an die SED und die KPdSU, war in der damaligen politischen Lage vernünftig und notwendig. Die Masse der Menschen versteht oft nicht, woher der Wind weht. Das war damals nicht anders als heute. Es ist Aufgabe der Progressiven voranzugehen, auch wenn ewig Gestrige dabei nicht immer mitkommen.

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